Schnecke mit Solarantrieb
Einfach nichts tun und wie Pflanzen nur vom Sonnenlicht leben – von einem solchen Dolcefarniente können Menschen und Tiere nur träumen. Alle Tiere? Nicht ganz. Eine grün leuchtende, gut getarnte Meeresschnecke, die im Brackwasser an der nordamerikanischen Atlantikküste lebt und eher wie ein Blatt mit Kopf aussieht, hat sich den Traum vom süssen Nichtstun erfüllt. Elysia chlorotica heisst die maximal drei Zentimeter grosse ungewöhnliche Schnecke, die ihren Solarantrieb – ziemlich unverfroren – von einer Grünalge geklaut hat.
Dass Elysia eine Diebin ist, weiss man schon seit den 1970er-Jahren. Als Jungtier setzt sie sich auf gelbgrünen Algen der Gattung Vaucheria fest, raspelt die Algenzellen ab und saugt sie aus. Dabei sorgt sie in ihrem Verdauungstrakt dafür, dass bestimmte Teile der Algenzellen intakt bleiben: die Chloroplasten. Das sind kleine «Orgänchen», die Pflanzen dazu nutzen, Sonnenlicht und Kohlendioxid in Zucker und Sauerstoff umzuwandeln, mit anderen Worten: Fotosynthese zu betreiben.
Die geklauten Chloroplasten transportiert Elysia in Zellen, die den Verdauungstrakt säumen und von da in winzigen Schläuchen weiter zur Haut, wo sie eine Chloroplastenschicht bilden. Hat Elysia genügend Chloroplasten eingelagert, hört sie auf zu fressen. Sie kann sich nun für den Rest ihres Lebens von jenen Kohlenhydraten und Fetten ernähren, welche die Chloroplasten mittels Fotosynthese produzieren.
Der Organklau – in der Fachsprache heisst er Kleptoplastie – ist einzigartig in der Tierwelt, aber letztlich nur ein Teil der raffinierten Diebesstrategie von Elysia, wie Forscher der University of South Florida nun herausgefunden haben. Die «Solarschnecke» klaut nämlich nicht nur Chloroplasten, sondern sie hat im Laufe der Evolution der grüngelben Alge gleich noch ein paar Gene stibitzt und diese fix in ihr eigenes Erbgut eingebaut. Sie hat also den Gentransfer zwischen zwei Arten lange vor der modernen Gentechnologie erfunden.
SonntagsZeitung/Zürich
Ricotimi - 18. Feb, 10:12